Die Geschichte und die Medien porträtieren Russland als das Gegenteil unserer Kultur. Zu Zeiten des Kalten Krieges war die Sowjetunion der Feind, unter der Führung Vladimir Putins scheint es das auch wieder geworden zu sein. Besonders während der Olympischen Winterspiele in Sotchi Anfang des Jahres und durch den Konflikt in der Ostukraine ist die Aufmerksamkeit westlicher Politiker, Medien und Zivilgesellschaften auf Moskau gelenkt. Und allen scheint es, Russland sei eher ein autoritäres Regime als eine Demokratie: Politische Gegner werden eingesperrt oder gleich ganz ausgelöscht, Medien werden beeinflusst oder unterdrückt, zivile Gruppen werden degradiert oder kriminalisiert.
Was hält Junge, Gebildete und liberal Denkende in so einem Land? Wenn man anderer Meinung ist als Putin und sein Gefolge, warum zieht man nicht um? Warum wandert man nicht aus, irgendwohin, wo man diese Meinung äußern kann? Wie kann man in Russland leben, wenn der Staat den eigenen Werten so tiefgründig widerspricht?
Indem man sich nicht mit dem Staat identifiziert, ist die Antwort. In Russland stehen Individuum und Staat an unterschiedlichen Enden einer Skala. Miteinander haben sie nichts zu tun.
Im Gegensatz zur immensen russischen Gastfreundschaft scheint eine Kultur von individualistischer Selbstverwirklichung zu stehen, in der jeder für sich selbst verantwortlich ist. „Ah, ja, dann frag mal die ganzen Alkoholiker auf der Straße!“ hört man oft, wenn man etwas über Lebensqualität in Russland erfahren möchte. Und doch sieht jeder für sich selbst genug eigene Möglichkeiten und Chancen, um einen guten Standard zu erreichen oder beizubehalten.
Viele sprechen von der „russischen Seele“ des Volkes als Grund, warum sie in Russland bleiben, aber was das ist, weiß man nicht so genau. „Das gibt es aber wirklich!“ sagte Anna Filipova, eine 17-jährige Schülerin aus Yaroslavl. „Und diese Seele ist stark und frei. Das hat jeder Russe in sich.“ Europa kennt sie aus mehreren Reisen und aus den Medien. Sie erkennt an, dass das nicht genug ist, um sich ein vollständiges Bild von Europäern zu machen. Aber sie meint, dass es Stärke und Freiheit so in Europa nicht gibt, wie in Russland. „Bei euch kann man wahrscheinlich freier wählen als hier, aber der persönliche Lifestyle scheint mir bei euch überhaupt nicht frei. Alle müssen das machen, was andere von ihnen erwarten, sonst wird irgendwer depressiv. Hier kann man tun und lassen, was man will.“ Ja, nur dass euer Präsident das auch kann, ist das nicht das Problem..? „Nein. Das geht ja durch alle Ränge.“
Dmitri Wasilew, 33, ist der Besitzer einiger Bars in Yaroslavl. Er sagt, man müsse viel und schwer arbeiten, um sich hohe Lebensqualität in Russland zu sichern, vom Staat könne man nämlich keine Hilfe erwarten. Eher das Gegenteil: „Der Staat nimmt sich von dir alles, was er kriegen kann“ sagt er ernüchternd. Trotzdem findet er, man habe in Russland genügend Möglichkeiten. Die Einschränkungen, die er anerkennt, machen den eigenen Charakter nur noch stärker. Diese Stärke für politische Veränderungen zu nutzen kommt für Dmitri nicht in Frage. Im Gegenteil, politische Inaktivität sieht er als Grundlage für einen hohen Lebensstandard in Russland. „Wenn du dich nicht in den Staat einmischst, mischt der sich auch bei dir nicht ein. Und ich misch mich da bestimmt nicht ein, kennst du Yevgeny Urlashov? Da sieht man ja, wohin das führt!“ Dmitri redet von Yaroslavls liberalem Bürgermeister, der 2013, nach nur einem Jahr im Amt, verhaftet wurde wegen nicht nachweisbarer Bestechung und seitdem in Moskau auf seinen Prozess wartet. „Ich hab einen Sohn, für den bin ich als erstes verantwortlich, nicht für mein Land.“
„Bei uns läuft das zwischen Staat und der Bevölkerung eher so“ sagt Nikolai Alexandrov, hält dabei beide Hände nebeneinander vor sich und bewegt sie langsam nach vorne – parallel und weit von einander entfernt. „Solange sich die beiden nicht in die Quere kommen, ist alles in Ordnung.“ Der 67-jährige ist Professor an der staatlichen Universität Yaroslavl für zeitgenössische russische Politik. Zur Sowjet-Zeit war er nicht als Lehrer tätig, weil er nicht eine Ideologie verbreiten wollte, in die er nicht glaubt. Er war viel auf Reisen, und hätte auch im Ausland leben können. Trotzdem ist er nach Russland zurückgekommen. „Jeder der in der Sowjetunion gelebt hat, sieht, wie viel unendlich mehr Freiheiten wir heutzutage hier haben.“ Alexandrov sieht seine Verantwortung darin, den Studenten eine kritische Sichtweise auf Politik zu vermitteln. „Meine Schüler denken viel in Schablonen: Dies ist gut, das ist schlecht. Mein Job ist es, diese Schablonen zu zerstören. Ob sie mit der Politik übereinstimmen oder nicht, ist mir nicht wichtig. Hauptsache, sie denken selber darüber nach.“ Aber wird nicht genau das in Russland unterdrückt? „Man kann hier alles sagen, was man will; man kann wählen, wen man will, und Bücher schreiben, worüber man will. Solange man das nicht auf einem hohen politischen Level macht… Aber das reicht doch für ein gutes Leben.“
Die 30-jährige Anya Grigorova ist die Direktorin eines LGBT-Clubs im Zentrum Yaroslavls. Auch mit einer „nicht-traditionellen Orientierung“, wie es im russischen Gesetzestext von 2013 heißt, der „Propaganda“ solcher Beziehungen verbietet, lässt es sich gut in Russland leben, sagt sie. „Man spricht nun mal einfach nicht darüber. Das ist doch eh Privatkram. Meine Freunde und Familie wissen, dass ich lesbisch bin, das reicht doch.“ Beruflich würde man aufgrund von Homosexualität nicht diskriminiert, solange man sich nicht im öffentlichen Dienst bewirbt zumindest. Da geht das natürlich nicht… Würde sie nicht gerne wo leben, wo man auch öffentlich homosexuell sein kann? „Ja, klar fänd ich das besser. Aber was soll ich machen, das ist eben meine Heimat.“
Erschienen auf Quemada Magazin…